Ich versuche hier zu beschreiben wie sich unser Fall von frontotemporaler Demenz entwickelt hat. Dieser Bericht ist vor allem für alle Betroffenen Menschen, welche diese Krankheit diagnostiziert bekommen haben, bzw. Menschen die andere mit dieser Krankheit pflegen.
Ich bin weder „Arzt“, noch habe ich mehrere Fälle als Grundlage meiner Beobachtung. Wir haben einen Fall und so muss man meine Beobachtung auch verstehen – es ist ein Einzelfall und jeder Fall verläuft sicher unterschiedlich. Unsere Mutti war Zeit Ihres Lebens leidenschaftliche Mathe/Chemie Lehrerin in der Oberstufe.
Phase 1:
Die erste Phase bemerkt man meist überhaupt nicht. Die Angehörigen definitiv nicht! Es zeigen sich zuerst kleinste Symptome wie, dass die erkrankte Person sich bestimmte Dinge nicht mehr merken kann, oder schon sehr frühzeitig bestimmte technische Dinge und abstrakte Ableitungen nicht mehr versteht. Ganz normale Dinge aus dem Alltag. Es wirkt am Anfang wie Faulheit, z.B. eine Batterie in einem Wecker auszuwechseln. Das fällt den Personen zunehmend schwer. Auch können sie nach meiner Beobachtung schon sehr frühzeitig nicht mehr lange zuhören. Das scheint mit ein sehr frühes Symptom für das verschwinden der Sprache zu sein. Darauf gehe ich später noch ein.
Es gibt immer öfters Unverständnis und die erkrankte Person reagiert mit Unverständnis. Da man die Krankheit noch nicht diagnostiziert hat, tendiert man schnell dazu mit der Betroffenen zu schimpfen – seinem eigenen Unverständnis Ausdruck zu verleihen, weil sie sich unangemessen verhält. Man hält das Verhalten für eine charakterliches Fehlverhalten und nicht für ein krankheitsbedingtes Fehlverhalten.
Wie schon geschrieben, ist es fast unmöglich zu erkennen, wann die Krankheit wirklich los geht. Bei unserer Mutti wurde die Krankheit 2008 diagnostiziert. Sie ist selbst zum Arzt gegangen und hat sich checken lassen, weil sie sich bereits viele Namen nicht mehr merken konnte. Die Krankheit muss zu dem Zeitpunkt also schon einen gewissen Fortschritt gehabt haben, im Mittel würde ich sagen mindestens 3 Jahre, vielleicht sogar noch viel länger.
Laut Wikipedia wird die Pick-Krankheit wie sie auch genannt wird häufig schon vor dem 60. Lebensjahr diagnostiziert. Wenn man mal genau darüber nachdenkt, müssen die Betroffenen schon viel früher erste Symptome haben.
2. Phase
Die erkrankten flüchten zunehmend in eigenen Welten. Das vermutlich völlig unterschiedlich. Es ist einfach eine psychische Reaktion auf die Feststellung das mit einem selber etwas nicht stimmt. Wir wussten übrigens auch in dieser 2. Phase noch nicht was los ist, da unsere Mutti die Diagnose für sich behalten hat. Warum ist mir bis heute nicht ganz klar – evtl. war das auch schon eine Entscheidung die von der Krankheit beeinflusst war. Ich denke aber auch, dass es mit dem Charakter zu tun hat. Wenn man gewohnt ist Dinge allein durch zu stehen, tendiert der betroffene evtl. zu so einer Entscheidung.
Diese Phase ist wichtig, weil sich hier bereits Dinge zeigen, welche die Erkrankte nicht mehr unter Kontrolle hat.
Bei uns äußerte sich das, in dem unsere Mutti am laufenden Band Inkasso-Briefe mit Forderungen im Briefkasten hatte. Sie bestellte Dinge, oder kaufte Staubsauger an der Tür für mehrere tausend Euro. (Achtung es gibt inzwischen eine ganze Industrie die sich auf alte Menschen, die Fehlentscheidungen treffen eingestellt haben und diese sprichwörtlich abzocken!)
An dem Punkt erhielten wir erst Kenntnis von der diagnostizierten Krankheit, das war ca. 2012, also 4 Jahre nach Diagnose. Meine Mutter war immer noch berufstätig!!! Das ist eigentlich unglaublich. Es muss ein einziges improvisieren gewesen sein. Die Erkenntnis, was die betroffenen Personen noch können und was nicht, stellt sich erst extrem zeitversetzt ein. Es ist ganz schwer zu erkennen was noch geht und was nicht. Die Person selbst versucht natürlich an allen Stellen wo sich nicht genau weiß was zu tun ist zu schätzen und häufig liegt sie auch instinktiv richtig. Meiner Mutti ging erst 2014 in Rente, solange war sie noch mit einer deutlich fortgeschrittenen frontotemporalen Demenz im Ihrem Beruf tätig. Ich kann nur vermuten, dass aufgrund des extremen Lehrermangels auch über die ein oder andere Schwäche hinweg gesehen wurde, oder nicht genau hingesehen wurde. Aber wie geschrieben, wenn wir als Angehörigen Probleme haben, diese Krankheit zu erkennen, wie sollen das dann Kollegen der Schüler schaffen?
Spätestens in dieser Phase, sollte die Krankheit erkannt sein, sonst wird’s für die Betroffene gefährlich. Sie braucht jetzt bereits Unterstützung. Meine Mutter konnte 2015 zwar Wörter noch lesen, aber keine Briefe mehr interpretieren. Sie konnte aus dieser Unkenntnis heraus auch nichts mehr wegwerfen. Sie wusste ja nicht, was wichtig ist und was nicht. Diese Unsicherheit war so groß, dass man ihr auch nicht sagen konnte, dass muss weg, dass ist Müll. Sie hat sich nahezu nichts sagen lassen. Diese Phase war schon sehr anstrengend. Das ist aber nichts zudem was man noch vor sich hat.
Phase 3:
In meiner Phase 3, folgen erhebliche Einschränkungen. So konnte sich meine Mutter zunehmend nicht mehr selbst ernähren. Nicht, dass sie nicht selbst essen konnte. Sie wusste einfach nicht mehr was essbar ist. Und noch viel schlimmer, ab 2016 konnte sie definitiv keine verdorbenen Lebensmittel mehr erkennen. Auch wenn Gäste da waren bekamen sie oft schmutzige Gläser, verschimmelten Kuchen, oder auch mal vergammeltes Fleisch als Kuchen angeboten. Diese Erkenntnis muss dann natürlich zu einer viel intensiveren Betreuung führen. Wenn man verhindern möchte, dass sich die Person selbst vergiftet. Hier greift ein moralisches Dilemma: Wenn es eine Patientenverfügung gibt, in der die Person einmal festgelegt hat, dass sie nicht künstlich ernährt werden will, stellt sich die Frage, wann dieser Zeitpunkt gekommen ist. Heute wo wir schon viel weiter fortgeschritten sind in der Krankheit, sind wir schon lange in einer Art künstlicher Ernährung angekommen, ohne das wir es gemerkt hätten, obwohl meine Mutter es ursprünglich ablehnte. Was genau damit gemeint ist, erkläre ich in Phase 5.
Veränderungen sind meiner Meinung nach für die Demenz wie Zunder! Reißt man die Erkrankten aus so einer Phase und sperrt sie in irgendein Heim, bauen sie massiv ab. Wenn man „feine Antennen“ hat, kann man das auch testen, in dem man die „Kurzzeit-Betreuungen“ diverser Heime für eine oder zwei Wochen nutzt. Danach ist der Erkrankte teilweise deutlich verstört und braucht eine Weile, um zumindest den alten Status wieder zu erlangen. Und man sieht dann erst mal, wie weit die Person schon improvisiert und froh ist, dass zu Hause alles in Jahrzehnte langen Wiederholungen einstudiert wurde.
Die Frage ist aber immer, wie viel man selber aushält, wie die persönlichen Möglichkeiten was Zeit und Wohnraum angeht sind. Es gibt sicher viele Fälle, da ist bereits hier mit persönlicher Betreuung Schluss! In unserem Fall hätte man die Mutti dann gleich in eine möglichst geschlossene Einrichtung einweisen müssen, ich beschreibe später warum.
Solange man die Kraft und die Möglichkeiten hat die Erkrankten noch in ihren eigenen „4 Wänden“ zu lassen und halbwegs selbstbestimmt zu leben, ist es meiner Meinung nach ein Glück für diese Menschen. Denn selbstbestimmtes Leben ist egal in welchem Zustand ein Recht jedes Einzelnen. Ich habe mich immer wieder hinterfragt, in wie weit ich überhaupt ein Recht habe einzugreifen. Das hat mir auch ein Stück weit geholfen und meine Mutter auch weit gehend beschützt. Den Gedanken „Es ist besser für die Person, wenn Sie in ein Heim kommt.“ Finde ich persönlich anmaßend und auch abstoßend, so lange die Person das nicht von selbst einfordert. Aber da gibt es sicher sehr unterschiedliche Auffassungen, die auch wieder mit der Betreuungsfähigkeit zusammen hängen und alle zu akzeptieren sind. Denn eines ist sehr wichtig, dass man sich auch selbst beschützt! Ein Demenzkranker kann einen sprichwörtlich „fertig“ machen. Ich gehe darauf später noch ein. Nicht umsonst gibt es derzeit Studien die belegen, dass Personen welche Demenzpatienten betreunen ein höheres Demenz Risiko haben. Das ist aus meiner Sicht schlicht ein Überlastungsthema. Das geht ganz schnell!
Phase 4:
Die nächsten merklichen Veränderung sind bei frontotemporaler Demenz der Verlust der Sprache und oder des Verständnisses. Das ist unterschiedlich bei den Patienten, je nachdem welcher Bereich des Gehirns als erstes durch die drei Eiweiße zurück gebildet wird. In unserem Fall, ist die Sprachfähigkeit noch lange möglich geblieben. Das Verständnis für Sprache ging bei unserer Mutti immer mehr zurück.
In Zeitlicher Abfolge kann man das so beschreiben:
Zuerst haben diese Menschen Probleme bei zuhören. Sie stellen teilweise Fragen, hören dann aber bei der Antwort auf diese Fragen schon nicht mehr hin.
Später und das erkennt man nur sehr schwer, verstehen sie Abstrakte Formulierungen nicht mehr. z.B. den Satz: „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.“ Sie würde das nur noch mit der Frucht des Apfels und einem Apfelbaum assozieren und könnten keinen abstrakten Sinn mehr ableiten.
Später verlieren Sie immer mehr Worte, was auch logisch scheint. Denn Sie erkennen ja auch die Gegenstände nicht mehr. Wenn ich eine Gabel nicht mehr erkenne, wie will ich noch das Wort aussprechen. Es ist aber nicht nur ein vergessen von Wörtern. Zunehmend werden es immer mehr Füllgeräusche, was man im allgemeinen als lallen oder so etwas wahrnimmt.
Die letzten Wörter die meine Mutti noch eine Weile verstanden hat, waren „ja“ und „nein“. Aber auch diese gehen verloren. Danach können die Betroffenen nur noch an der gestig ablesen, was gemeint ist.
Ein Beispiel: Wir haben immer bevor es in die Dusche geht, an den Türrahmen des Bades geklopft. Das hat einen gewissen Stress erzeugt, aber dazu geführt, dass die Mutti überhaupt begriffen hat, was als nächstes kommt.
Auch das geht irgendwann komplett weg.
Phase 5:
In meiner Phase 5 möchte ich einen Zustand beschreiben in der die jeweilige Person absolut nicht mehr selbst lebensfähig ist und ohne Überwachung durch dritte Personen, längst ein Ende gefunden hätte.
Es ist wieder ein moralisches Dilemma, wenn die Person ursprünglich lebenserhaltende Maßnahmen abgelehnt hat und durch den schleichenden Prozess in der Pflege dieser Zustand lange Einzug gehalten hat.
In unserem Fall ist das Thema Anziehen beispielsweise schon lange nicht mehr allein möglich. Obwohl die körperlichen Fähigkeiten noch vorhanden wären. Da landet die Hose als Hut auf dem Kopf und ansonsten wird völlig nackt das Haus verlassen. Das das im Winter innerhalb von 24h zum Tod führen würde, muss man nicht weiter ausführen.
Auch erkennt unsere Mutti schon sehr lange keine Nacht oder einen Tag, genauso wenig heiß und kalt. Sie würde sich also mit kochendem Wasser verletzen, genauso mit extremer Kälte. Das Gehirn kann das einfach nicht mehr unterscheiden und die Umgebung und die gesamte Überwachung muss so umgestaltet werden, dass sich die Person nicht verletzten kann. Das geht unweigerlich mit Eingriffen in die persönliche Freiheit des Betroffenen einher.
Das Thema Toilette ist lange Geschichte. In gewisser Weise ist eine Windel leichter für die Pfleger zu händeln, als permanent verschmutzte Räume. Da die Fäkalien als solche von den Betroffenen nicht mehr erkannt werden und auch der Geschmacksinn lange weg ist… wird damit alles mögliche angestellt. Abhilfe schaffen hier Schlaf-Anzüge, die die Betroffene nicht allein ausziehen kann. Diese haben auf dem Rücken einen Reisverschluss, die nur vom Pfleger zu öffnen sind. Es ist quasi ein leichter Baumwoll-Body als Unterwäsche der verhindert, dass sich die Betroffenen etwas aus der Windel holen können usw. Das nur als Tipp. Ohne diese Anzüge wäre eine Pflege erheblich schwerer bis gar nicht mehr umsetzbar.
Das Thema Windeln wechseln ist mit Abstand das aufwendigste und kraftraubendste Teil der Pflege. Da man nicht weiß wann es so weit ist und die Person ja auch nicht mehr Bescheid sagt, muss man sich feste Intervalle festlegen, an denen man die zu pflegende Person immer wieder komplett auszieht, sauber macht und wieder anzieht.
Der Aufwand für diese Pflege ist so hoch, dass eine einzelne Person das nicht mehr schaffen kann, ohne selbst erheblichen Schaden zu erleiden.
Erschwerend kommt hinzu, dass zu diesem Zeitpunkt in Deutschland keine Verhinderungspflege mehr möglich ist, so dass man sich mal eine Woche ausruhen kann. Die Heime kommen mit solche schwierigen Fällen einfach nicht klar, besonders dann, wenn die Leute noch völlig mobil sind. Die betroffenen gehen dann in die Räume der anderen Bewohnen ziehen ihnen die Decke weg, legen sich dort einfach mit ins Bett, oder nehmen die Dekoration oder andere Dinge die sie finden in den Mund und versuchen sie zu essen. Auch Keramik, Glas, Papier, einfach alles… Für solche Zustände sind die wenigsten Heime vorbereitet.
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